Ebereschenrot

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Wer einfach ins erste Kapitel reinlesen möchte …

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Wer schon auf den gruseligeren Teil aus ist …

Leseprobe 1

Kapitel 1

Amberton Hall, bei Norwich, Anfang Mai 1899

»Edith? Edith? Hast du meine Handschuhe irgendwo gesehen?«

Amanda Hall drehte sich suchend um ihre eigene Achse, doch weder ihre ältere Schwester noch das abtrünnige Paar Handschuhe manifestierten sich in ihrem kahlgeräumten Ankleidezimmer, das sie sich mit Edith teilte. Sie bekam auch keine Antwort. Als sie sich seufzend durch Koffer und aufgetürmte Hutschachteln schlängelte, um den Kopf durch die Verbindungstür in Ediths Zimmer zu stecken, sah sie auch warum – das Schlafzimmer war leer.

Mit einem missgelaunten Schulterzucken machte sie kehrt und entdeckte auf dem Rückweg in ihr eigenes Zimmer dann doch noch die vermissten Handschuhe, die vom Frisiertisch auf den Boden gerutscht waren, wo sie wegen ihrer dunklen Farbe nicht weiter auffielen. Amanda hob sie auf und legte sie an ihren Platz zurück, neben den Hut und das dunkelblaue Reisekostüm, das sie später für die Fahrt nach London brauchen würde.

Noch einmal sah sie sich prüfend in dem kleinen Raum um, ob sie auch nichts vergessen hatte einzupacken – die Kämme, die Parfümflakons, Handcreme und Hutnadeln … alles schien verstaut. Nur die Wintersachen, die sie für die Londoner Saison nicht brauchen würden, blieben zurück, ebenso wie die vielen Trauerkleider und alles, was zu abgetragen war, um in London damit Staat zu machen. Auch das war leider nicht wenig und die Anzahl der neuen Kleider war noch geringer.

Amanda und Edith hatten wochenlang Zeit mit der Schneiderin aus dem Dorf zugebracht, Ärmel getreu der neuesten Mode zu verengen, Rocksäume zu flicken und alte Kleider ihrer Mutter auf ihre Maße anzupassen. Doch sie zweifelte, ob all diese Maßnahmen genug waren oder ob man sie in London sofort als der verarmte Landadel entlarven würde, dem sie ja schließlich angehörten.

Aber das war nicht zu ändern, jedenfalls nicht jetzt. Sie hoffte, dass es Tante Maud gelang, Abhilfe zu schaffen. Bis dahin blieben die guten Sachen der Öffentlichkeit vorbehalten, während sie zuhause, so wie jetzt, in ihrem ältesten abgetragenen Rock herumlief, mit einer vergilbten Bluse und einem selbstgestrickten Schultertuch darüber. Für Anfang Mai war es noch recht kühl und der Himmel draußen war grau verhangen.

Mit einem neuerlichen Seufzen wiederholte Amanda ihre Inspektion in ihrem eigenen Schlafzimmer. Auch dort waren alle persönlichen Gegenstände eingepackt worden und der vertraute Raum mit den blaugestrichenen Wänden und den geblümten Vorhängen wirkte kahl und leer. Sie hielt es nicht lange darin aus.

Stattdessen begab sie sich lieber auf die Suche nach Edith, die sie schließlich im Familienwohnzimmer im selben Stockwerk aufspürte, wo sie dem Hausmädchen dabei half, die Möbel für die Zeit ihrer Abwesenheit mit groben Leintüchern abzudecken. Oder besser gesagt, Elsie mühte sich damit ab, das Sofa beim Kamin vollständig zu überziehen, während Edith sich gedankenverloren im Zimmer umsah und offensichtlich überlegte, was noch zu tun war.

»Hier, Elsie.« Amanda bückte sich nach einem widerspenstigen Stoffzipfel, so dass Elsie das Leinen richtig glattziehen konnte. »Es sieht aus, als ob ihr gut vorwärtskommt.«

»Ja, das ist das letzte Zimmer«, antwortete Edith an Stelle des Hausmädchens. »Fühlt sich merkwürdig an, das Haus jetzt vollständig zu schließen.« Das vielleicht für immer hing unausgesprochen in der Luft.

»Allerdings«, murmelte Amanda und gesellte sich zu Edith. Ihre Schwester stand mittlerweile am Fenster, das einen wenig spannenden Ausblick auf den kiesbestreuten Hof vor der Eingangstüre bot. Besagtes Fenster war ein etwas merkwürdiger Kontrast zu der in Rosa- und Lilatönen bedruckten Tapete, da es ebenso wie der ganze Gebäudeflügel aus dem späten Mittelalter stammte, aber Amanda fiel das nicht weiter auf. Amberton Hall war ihr Zuhause, mit all seinen kleinen Absonderlichkeiten, und sie wollte es nicht hinter sich lassen. »Ich wünschte, wir könnten den Sommer einfach hier verbringen.«

Edith lächelte matt. »Du weißt, warum das nicht geht. Wir können froh sein, dass Tante Maud uns die Möglichkeit auf einen neuen Anfang bietet. Hier würden wir nie angemessene Ehemänner finden – die ganze Grafschaft weiß, wie es um uns steht, und wir können die arme Mrs Jones auch nicht ständig darum bitten, Anstandsdame für uns zu spielen, wenn wir irgendwo eingeladen sind. In London sind wir unbekannte Größen und Tante Maud kann uns Zugang zu ihren Kreisen verschaffen.«

»Ja, ich weiß.« Frances Jones war die schon etwas ältliche Frau des Familienanwalts, der Amanda seit dem Tod ihres Vaters bei der Gutsverwaltung half. In Ermangelung weiterer Verwandtschaft hatte sie sich der verwaisten Schwestern angenommen, bis vor ein paar Monaten ihre verwitwete Tante Maud Ashley aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt war und ihre Absicht verkündet hatte, ihre Nichten unter ihre Fittiche zu nehmen.

»Und es wird Zeit für uns. Ich bin gerade fünfundzwanzig geworden und du wirst auch nicht jünger …« Doch Edith klang auch nicht gerade begeistert.

»Ich sehe noch keine grauen Haare«, versuchte Amanda sie zu necken, doch der müde Scherz brachte ihr nur eine kleine Grimasse ein. »Im Ernst – du wirst bestimmt deine Auswahl an Verehrern haben.«

Was nicht gelogen war. Edith war einen Kopf größer und zwei Jahre älter als Amanda, eine auffallende Erscheinung mit ihren rotblonden Haaren, die sie von irgendeinem unbekannten Vorfahren geerbt haben musste, und stets der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Lediglich die dunklen Augen verrieten, dass sie und Amanda Schwestern waren.

Edith jedoch zuckte nur mit den Achseln. »Lass uns lieber hoffen, dass Mauds Schneiderin so gut ist, wie sie behauptet, und vor allen Dingen auch so schnell. Sonst wird keine von uns beiden viel Beachtung bekommen.«

»Ja, ich wünschte auch, sie hätte uns etwas mehr Zeit zum Planen gelassen. Dann hätten wir auch die ganze Saison voll ausnutzen können.«

Mauds Brief war erst vor etwas mehr als zwei Wochen auf Amberton eingetroffen und die Saison ging nur bis Ende Juli, Anfang August. Wenig Zeit, sowohl für die Vorbereitungen als auch für Mauds ehrgeiziges Unterfangen, ihren Nichten zwei gute Partien zu angeln, bevor der Sommer vorbei war. Amanda schmeckte diese Hast nicht. Sie wusste selbst, dass sie heiraten musste, und sie hatte mit Edith diesbezüglich Pläne für Gesellschaften und Bälle in der Umgebung geschmiedet. Aber ein paar Monate, ein Jahr hin oder her, was machte das schon? Weswegen musste es unbedingt London sein?

Immerhin war der von Maud empfohlene Gutsverwalter samt seiner Familie letzte Woche eingetroffen, so dass Amanda ihn gründlich hatte einweisen können. Falls es trotzdem Probleme geben sollte, würde ihm Hugh Jones zur Seite stehen. Zumindest den landwirtschaftlichen Betrieb und die Pächter würde Amanda also in guten Händen wissen.

»Miss? Ich bin jetzt fertig«, meldete sich Elsie schüchtern aus dem Hintergrund.

»Ist gut, danke«, antwortete Edith abwesend. »Du kannst gehen.« Sie wandte sich Amanda zu und nickte zu den weiß verhüllten Gespenstern des Mobiliars hinüber. »Ich sehe hier oben noch einmal nach dem Rechten, wenn du es unten tust?«

Auch unten war alles in schönster Ordnung, das gute Empfangszimmer und das Esszimmer im neueren, rechtwinklig an den mittelalterlichen angebauten Gebäudeflügel aufgeräumt und gegen Staub verhängt und geschützt, die Vorhänge zugezogen, so dass der Blick in den Garten verwehrt war. Auf dem Rückweg kam Amanda an der Küche vorbei, die in einem vornehmen Haus selbstverständlich vom Hausflur und den Wohnräumen der Familie hätte abgetrennt sein sollen. Aber niemand hatte während der vielen Umbauten auf Amberton darüber nachgedacht und so gab es nur eine einzige steile Wendeltreppe aus dem Mittelalter, die im Winkel zwischen der Küche und den Vorratsräumen ins Obergeschoss führte.

Edna Martin, die Köchin, steckte den Kopf aus der Tür, als sie Amandas Schritte hörte. »Ah, Miss Amanda – bereit zum Aufbruch? Ich habe Ihnen einen Proviantkorb für den Zug zurechtgemacht.«

»Danke, Mrs Martin«, entgegnete Amanda lächelnd und begleitete sie in die Küche zurück. Mrs Martin war hier schon Köchin gewesen, solange sie sich erinnern konnte, und hatte während ihrer ganzen Kindheit einen steten Quell von Süßigkeiten, abgeleckten Teiglöffeln und Trost bei kleinen Kümmernissen für die Schwestern dargestellt. Auch jetzt noch empfand Amanda die dämmrige Küche mit dem abgelaufenen Steinfußboden und dem glühenden Herd als gemütlich. Der versprochene Korb stand auf dem blank gescheuerten Arbeitstisch und auf dem Herd dampfte irgendeine Suppe vor sich hin.

»Ich denke, wir sind abreisefertig«, antwortete sie etwas verspätet auf die Frage der Köchin. »Die Räume sind geschlossen und Marvin und Thomas können dann anfangen, das Gepäck aufzuladen.«

»Ich schicke Elsie, um ihnen Bescheid zu sagen«, versprach Mrs Martin. »Aber mit Verlaub, Miss Amanda, Sie sehen nicht glücklich über diese Reise aus.«

Amandas Kehle schloss sich gefährlich und sie atmete einmal tief durch, ehe sie antwortete. »Es ist ein merkwürdiger Gedanke, dass ich nicht mehr hierher zurückkehren werde, oder wenn dann nur als Gast meiner Schwester.« Ihre Stimme zitterte nicht und sie war ein bisschen stolz darauf. Der Abschied von Amberton lag ihr wie ein Stein in der Brust. Aber Edith war natürlich die Alleinerbin des Landbesitzes.

»Ja, das ist verständlich«, räumte die Köchin ein. »Trotzdem ist es eine große Chance – eine reiche Erbtante aus Amerika hat nicht jeder!«

Amanda lächelte traurig. »Nein, ich weiß. Es ist unser Glück, dass sie sich entschieden hat, wieder nach England zurückzukehren.«

Maud Ashley, die ältere Schwester ihres Vaters, hatte in jungen Jahren einen amerikanischen Millionär geheiratet – zur allgemeinen Verwunderung anscheinend, da sie nur ein kleines Erbe zu erwarten hatte. Alle paar Jahre hatte sie sich auf dem Familiensitz blicken lassen, aber die Besuche hörten im Jahr nach Amandas zwölftem Geburtstag auf, weil ihr Mann immer älter und gebrechlicher wurde. Vor ein paar Jahren war er gestorben und Maud verspürte nun doch offenbar Heimweh nach ihrem Geburtsland, zumal die Ehe kinderlos geblieben war.

»Sie wird Ihnen bestimmt gut unter die Arme greifen, Ihnen und Ihrer Schwester«, sagte Mrs Martin tröstend. »Sie sind bei ihr gut versorgt. Wenn Miss Hall nur das Gut nicht verkauft …«

Das war das andere Damoklesschwert, das über ihnen hing. Amandas Vater war wie viele kleine – und auch große – Landadelige von der Agrarkrise in den 1880er Jahren schwer betroffen gewesen und das Gut hielt sich kaum über Wasser. Edith, oder vielmehr ihr zukünftiger Ehemann, könnte sich leicht entscheiden, es abzustoßen.

Maud, die ihnen finanziell unter die Arme hätte greifen können, hatte dagegen klargestellt, dass sie das nur in Betracht ziehen würde, wenn Edith eine gute Partie machte, und auch dann hing es natürlich von Edith und ihrem Zukünftigen ab, ob sie das überhaupt wollten. Dasselbe galt für Amandas möglichen Anteil aus dem Erbe – blieb sie unverheiratet, hatte sie keine weitere Hilfe zu erwarten.

»Falls es so weit kommt, sorge ich dafür, dass Sie alle eine gute neue Stellung finden«, versprach Amanda, obwohl sie nicht wusste, ob sie diese Zusage würde einhalten können. Auch ihre eigene Zukunft war ja mehr als ungewiss.

»Das ist gut von Ihnen, Miss«, antwortete Mrs Martin. »Aber ich hoffe doch, dass das nicht nötig sein wird.«

»Ich auch.«

Amanda verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von der Köchin, bevor ihr dieses Gespräch doch noch die Fassung rauben konnte. In das stille Haus wollte sie aber auch nicht zurück, also beschloss sie, ein paar Schritte durch den Garten hinter dem Haus zu gehen. Sie durchquerte den Hof, in dem der Wagen schon bereitstand, und umrundete den älteren, von Efeu und wildem Wein überwucherten Gebäudeflügel.

Von außen sah man ihm nicht an, dass er ein Wohnzimmer mit schweren Sesseln und einem stillgelegten uralten Kamin beherbergte und die kleine holzvertäfelte Studierstube ihres Vaters, in der Amanda seit seinem Reitunfall vor fünf Jahren die Bücher führte. Von außen sah er nur aus, als wolle er auch die nächsten fünfhundert Jahre unverändert dort stehen. Auf der anderen Seite war Mickey, der schwarze Hofkater, eifrig mit der Mäusejagd beschäftigt, aber er ließ sich leicht locken, als Amanda sich zu ihm ins hohe Gras seitlich des Pfades hockte.

»Na, du?«, murmelte sie und fuhr ihm über den Rücken. »Wirst du uns vermissen, wenn wir fort sind?«

Mickey rieb sich schnurrend an ihrer Hand und schon wieder kämpfte Amanda mit den Tränen. Über die letzten Tage hatte sie ihre Abschiedsrunde bei den Pächtern gemacht, für die sie zusammen mit den Büchern die Verantwortung trug. Sie hatte in bescheidenen, aber sauber gefegten Cottages ebenso vorbeigeschaut wie bei ihren Sorgenkindern, jenen Familien, in denen ein Elternteil schwer krank darniederlag, kürzlich ein Kind gestorben war oder wo der Alkohol Einzug gehalten hatte. Amanda sah in solchen Fällen normalerweise wöchentlich nach dem Rechten, so wie es auch ihre Mutter getan hatte, und brachte bei Bedarf Lebensmittel vorbei. Die Frau des neuen Verwalters hatte ihr hoch und heilig versprochen, diese Tradition fortzuführen.

Danach war sie mit Edith auf den Friedhof hinter der Dorfkirche gegangen, um von ihren Eltern Abschied zu nehmen und hatte insbesondere mit ihrem Vater stumme Zwiesprache gehalten. Sie hoffte so sehr, dass die Entscheidung, nach London zu gehen und Amberton fremden Händen zu überlassen, in seinem Sinne gewesen wäre. Sie hätte nie damit gerechnet, dass ihr so jung so viel Verantwortung zufallen würde, aber als eine Woche nach der Beerdigung des Vaters einer ihrer Pächter unendlich verlegen und verzweifelt in der Tür gestanden hatte, weil er nicht wusste, wie er seine Kinder über den Winter bringen sollte, nachdem er fast die ganze Ernte an einen Sturm verloren hatte, und ihre Mutter nur wie gelähmt dagesessen hatte, war Amanda aufgestanden, hatte die Studierstube ihres Vaters aufgeschlossen und hatte nie zurückgesehen. Irgendwie hatte sie nicht gedacht, dass sich das jemals wieder ändern würde, was natürlich recht naiv von ihr gewesen war.

»Sei nicht so traurig«, sagte Edith leise in ihrem Rücken. »Wahrscheinlich geht das alles nicht so einfach, wie Tante Maud sich das vorstellt, und wir sind im August wieder da. Unverheiratet.«

Amanda hob den Kopf und drehte sich zu ihrer Schwester um. »Ich dachte, du freust dich auf London?«

Edith zuckte die Schultern. »Tue ich schon.« Sie kniete sich neben Amanda auf den Kiespfad und streckte ihrerseits die Hand nach Mickey aus. »Ich denke nur, ein wenig Abwechslung und Gesellschaft tun uns beiden gut, vor allem nach Mutters Tod. Also lass uns die nächsten Monate genießen und alles weitere … findet sich dann.«

Edith war auf eine Hochzeit mit einem Unbekannten ebenfalls nicht versessen, ahnte Amanda. Sie war diejenige, die ihrer beider Gesellschaftskalender stets gut gefüllt hielt und die lange Krankheit und Pflege ihrer Mutter, gefolgt von einem vollen Trauerjahr hatte sie vielleicht noch mehr belastet als Amanda. Jetzt wollte sie ihre Freiheit genießen, so weit das möglich war, sich in der Gunst von ein oder zwei harmlosen Verehrern sonnen und den Ernst des Lebens ein wenig von sich fernhalten. Amanda wiederum hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie ihren stillen Rückzug hätte weiterführen können. Sie war zufrieden mit dem Gut, der ihr anvertrauten Verantwortung und ihren Büchern.

»Ich weiß nicht, was Tante Maud dazu sagen wird, wenn wir uns nur amüsieren wollen«, wandte sie dennoch ein.

Edith legte den Kopf schief. »Was hast du nur im Moment? Tante Mauds Angebot ist tatsächlich sehr großzügig – auf etwas Besseres brauchen wir kaum zu hoffen, selbst wenn nur ein Sommer voller Unternehmungen dabei herausspringt. Oder hast du vergessen, dass wir uns den ganzen Winter die Köpfe darüber zerbrochen haben, wie es mit uns weitergehen soll, sobald wir wieder in Gesellschaft auftreten können?«

»Nein«, räumte Amanda ein, aber sie senkte den Blick wieder auf Mickey, der jetzt angefangen hatte, sich seinen weißen Latz zu putzen. »Ich bin ein bisschen wütend, denke ich. Sie kennt uns größtenteils über Briefe und jetzt spaziert sie einfach so in unser Leben hinein und stellt es auf den Kopf.« Sie winkte ab, bevor Edith den Mund aufmachen konnte. »Ich weiß, ich weiß, ich bin undankbar. Aber ich bin nicht so versessen auf Bälle und Pferderennen in der guten Gesellschaft wie du.«

Edith nickte schicksalsergeben. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Beschwerde hörte. »Ich weiß. Aber wenn ich nicht vorteilhaft heirate und du nicht wenigstens so, dass du abgesichert bist, werden wir Amberton nicht halten können. Also wirst du dich mit den Bällen und den Pferderennen abfinden müssen.« Sie fischte ihre Uhr aus der Tasche am Rockbund, bevor Amanda einwenden konnte, dass es Maud durchaus möglich wäre, ihnen auszuhelfen, ohne dass sie lebensverändernde Bedingungen wie eine Ehe daran knüpfte. »Und wenn wir beide uns nicht bald umziehen, kommen wir heute überhaupt nicht mehr nach London und Tante Maud wird uns ohne Bedenken vor die Tür setzen.«

Leseprobe 2

aus Kapitel 4

[Edith und Amanda hatten vor einem Wolkenbruch Zuflucht in einem sich im Umbau befindenden Varieté gesucht. Edith hat ihre Handschuhe dort vergessen – nun sind sie zurückgekommen, um sie zu holen und die Besitzerin des Gebäudes, Mrs Abbitt, hat sie mit kryptischen Warnungen wieder nach Hause geschickt.]

»Was war das denn?«, murmelte Amanda, kaum dass sie sich ein paar Schritte vom Haus entfernt hatten. »Bilde ich mir das ein oder war sie sehr erpicht darauf, uns loszuwerden?«

»Ich fürchte, Mrs Webster hat recht und da geht irgendwas nicht ganz mit rechten Dingen zu«, antwortete Edith. »Aber das braucht uns ja nicht mehr zu kümmern.«

»Gottseidank. Moment – in welche Richtung laufen wir eigentlich?« Edith war auf die Querstraße abgebogen, anstatt den Weg zurückzugehen, auf dem sie hergekommen waren.

»Ich dachte, wir gehen Richtung Park«, erklärte sie. »Dort finden wir vielleicht leichter eine Kutsche, vor allem um die Uhrzeit. Im Stadtzentrum ist zu viel Betrieb und vom Manchester Square bis hierher habe ich nicht eine einzige gesehen.«

»Gute Idee.« Amanda folgte ihr bereitwillig. Die Sonne schien ihnen zwischen den Häusern genau ins Gesicht, aber ihr Licht hatte einen deutlichen Kupferton angenommen. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kamen.

Die Straße endete an einem Zaun und einer kleinen Grünfläche und Edith wandte sich ohne zu zögern nach Norden. Die Gasse, in der sie sich befanden, kreuzte eine weitere breite Straße und sie blieben kurz stehen, um zu überlegen, wie sie den Weg am besten fortsetzen sollten, aber am Ende überquerten sie die Straße und hielten sich in die eingeschlagene Richtung. Der Regent´s Park war selbst an seiner Schmalseite breit genug, dass sie ihn eigentlich nicht verfehlen konnten – oder zumindest war das Amandas Argument gewesen.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie bogen an der nächsten Hauptstraße rechts ab, doch obwohl sie den Park schon durch die Häuser hätten sehen müssen, fanden sie nur weitere Gassen, ein endloses Gewirr, in dem sie bald heillos die Orientierung verloren hatten und die fast so ärmlich waren wie die in der Nähe des vermeintlichen Theaters. Kein Mensch war zu sehen, obwohl zu dieser Uhrzeit eigentlich die Kinder noch draußen hätten spielen müssen, während ihre Mütter drinnen am Herd standen.

»Das gibt es doch nicht.« Edith stemmte die Hände in die Hüften und sah sich ratlos um. »Wie können wir denn so dämlich sein und einen kompletten Park verfehlen?« Es klang barsch, aber Amanda hörte die Unruhe in ihrer Stimme trotzdem.

»Lass uns nachdenken«, beschwichtigte sie und sah zum Himmel auf. »Norden ist dort« – sie wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren – »und ich glaube nicht, dass wir weit genug nach Osten oder Westen abgekommen sind, dass wir am Park vorbeilaufen würden. Lass uns umkehren.«

Edith machte ohne ein Wort kehrt, aber es war wie verhext. Keines der Sträßchen führte auf Dauer in die Richtung, in die sie wollten, und so langsam brach die Dämmerung herein und beraubte sie ihres besten Orientierungspunktes. Und immer noch war die Gegend wie ausgestorben.

»Warte!« Amanda packte Edith am Arm und wies nach vorne, bevor sie um eine weitere Ecke biegen konnte. »Da vorne sind wir hergekommen.«

Das gedrungene, von Baugerüsten umgebene Gebäude, das sie vor bestimmt einer guten Stunde verlassen hatten, lag schräg links voraus. Amanda hätte schwören mögen, dass sie sich ihm, wenn überhaupt, aus der anderen Richtung hätten nähern müssen. Was war bloß mit ihrem Orientierungssinn los?

»Wunderbar. Dann wissen wir ja diesmal zumindest, in welche Richtung wir gehen müssen, um zurück zur Oxford Street zu kommen.« Edith schenkte Amanda ein erschöpftes Lächeln. »Das zumindest sollten wir ja wohl hinbekommen.«

Doch sie irrte sich. Die Abzweigung Richtung Manchester Square wollte und wollte nicht kommen und so langsam wurde Amanda ernstlich nervös. Nein, nicht nervös – kalte Furcht strich ihr über den Rücken und brodelte irgendwo tief in ihrem Bauch. Irgendetwas war zutiefst faul und an der Art, wie Edith sich umsah und sich immer wieder auf die Lippen biss, erkannte Amanda, dass es ihrer Schwester nicht besser ging. Sie konnten höchstens ein paar Querstraßen von den gutsituierten Vierteln um die Oxford Street entfernt sein, aber alles, was sich ihnen auftat, waren neue Reihen von niedrigen Backsteinhäuschen.

»Tante Maud bringt uns um«, murmelte Edith, als sie zum wiederholten Mal an einer Kreuzung zögerten. Mittlerweile war es düster zwischen den schäbigen Häusern und ihnen taten die Füße weh. Edith wischte sich achtlos mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und zog Amanda weiter, aufs Geratewohl, wie es ihr vorkam. Sie ließ ihre Hand nicht mehr los, auch als Amanda sich folgsam in Bewegung setzte.

Amanda war froh darum. Als sie die Kreuzung passierten, sah sie die Nebenstraße zur Rechten herunter und ein scheußlicher, heißer Stick fuhr ihr durch den Bauch, als sie aufs Neue die Silhouette des eingerüsteten Hauses erkannte. Auf der linken statt auf der rechten Straßenseite, wie sie eigentlich geschätzt hätte. Sie behielt diese Beobachtung für sich.

Von einer Biegung auf die nächste waren plötzlich die Straßenlaternen angezündet, obwohl sie niemanden gesehen hatten, der das hätte tun können, aber ihre Flammen wollten die Dunkelheit zwischen den Häusern nicht so recht durchdringen. Vereinzelt fiel warmer Lampenschein aus den Fenstern auf das Pflaster, doch hinter den Scheiben regte sich nichts. Mond und Sterne waren nicht zu sehen und die Tageshitze schien mit dem Einbruch der Nacht aus der Luft gesogen worden zu sein. Amanda fror.

Sie hielt Ediths Hand zu fest, aber ihre Schwester beklagte sich nicht und wenn Amanda zu ihr hinübersah, fand sie ihre Befürchtungen in ihren Augen gespiegelt. Aber dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, wollte keine von ihnen aussprechen. Und noch weniger wollte Amanda darüber nachdenken, was passieren würde, wenn sie keinen Ausweg aus diesem Labyrinth unbekannter Straßen finden sollten, die es hier im Viertel eigentlich gar nicht geben sollte, oder jedenfalls nicht in dieser Anzahl.

Plötzlich blieb Edith wie angewurzelt stehen und Amandas Blut gefror zu Eis, noch ehe sie sich umdrehte und entdeckte, was Edith gesehen hatte.

Das »Theater« lag auf der anderen Straßenseite, aber die Planen um die Fassade waren verschwunden und gelbes Licht schien aus den fast bodentiefen Fenstern rechts neben der Tür, blendend nach der erstickenden Dunkelheit in den Gassen, viel heller als die Gaslampen am Straßenrand. Auch hinter den Fenstern im Obergeschoss flackerte es gedämpft.

Sie sahen sich nicht an, sie sprachen sich nicht ab. Wie magisch angezogen schlichen sie auf das Licht zu, zwei hilflose Motten, hypnotisiert vom Feuer. Amanda kam es vor, als beobachte sie die Vorgänge irgendwo tief aus ihrem Inneren, ohne sie beeinflussen zu können. Das zunehmende Grauen, das sie empfand, schnürte ihr die Kehle ab, aber gleichzeitig erreichte sie es kaum. Es reichte jedenfalls nicht aus, dass sie sich davon hätte abhalten können, sich auf das niedrige Fenstersims zu knien und durch die Scheibe ins Innere zu spähen.

An der gegenüberliegenden Wand zog sich eine Theke aus dunklem Holz entlang, hinter der Polly Lewis stand und Bier und irgendeinen Schnaps an die Männer ausschenkte, die sich in der Mitte des Raumes um niedrige Tische drängten. Ihre Locken fielen offen über ihre Schultern und der oberste Knopf ihrer Weste stand offen. Rechterhand, gegenüber dem Eingang, stand Mrs Abbitt in einem ziemlich gewagten Abendkleid auf einer niedrigen Bühne und sang. Jane konnte Amanda nicht entdecken, aber eine weitere junge Frau mit zerzausten braunen Haaren verschwand soeben mit einem der Männer durch die Tür zum Vorraum.

Amanda brannten die Wangen, als ihr aufging, was mit »einer Art Theater« wirklich gemeint war, aber als sie den Blick wieder auf den Hauptraum richtete, vergaß sie ihre Scham. Einer der Männer in der zügellosen Menge war über dem Tisch zusammengesunken, betrunken, dachte sie zuerst, bis sie den dunkelroten Fleck entdeckte, der sich auf seinem Rücken ausbreitete. Niemand sonst schien etwas zu bemerken und es war keine Waffe zu sehen, mit der ihm diese Verletzung zugefügt worden war, aber als Amanda entsetzt die Augen losriss, entdeckte sie einen weiteren Mann, der mit durchtrennter Kehle rücklings in seinem Stuhl hing. Dann einen mit einem eingeschlagenen Schädel, mit einer abgetrennten Hand, aus der das Blut nur so sprudelte, mit einer Schusswunde, die sich deutlich vom schmuddeligen Weiß seines Hemdes abzeichnete …

Sie schnappte nach Luft, doch wohin sie auch sah, fand sie nur weitere Leichen, Tote über Tote, alle mit brutalen Verletzungen. Auf der Bühne stand immer noch Mistress Abbitt und sang und Polly Lewis wischte mit einem Lappen die Theke ab, obwohl ihr die Tränen übers Gesicht liefen und ein dünner Blutfaden aus Mund und Nase.

Amanda schwindelte und fast wäre sie rücklings vom Sims gefallen. Instinktiv klammerte sie sich an Ediths Hand und entweder der Druck oder das Entsetzen brach den Bann. Plötzlich konnte sie sich wieder bewegen.

»Weg hier!« Sie riss Edith mit sich, die ihr stolpernd, aber widerstandslos folgte, und zusammen rannten sie Hand in Hand die Straße hinunter, bogen einmal rechts und einmal links ab und fanden sich außer Atem und zitternd inmitten der wohlhabenden Häuser der Manchester Street wieder, als sei nie etwas gewesen. Die Gaslaternen vertrieben die Dunkelheit so wie immer und die balsamweiche Luft eines Sommerabends legte sich wohltuend auf ihre ausgekühlten Gesichter. Hoch oben flirrten ein paar Sterne schwächlich durch den allgegenwärtigen Londoner Rauch.

Sie verlangsamten ihren Schritt ein wenig, hasteten aber immer noch schneller Richtung Oxford Street, als es schicklich war, um dem Grauen in ihrem Rücken zu entkommen. Vereinzelte Passanten, auf dem Weg von oder zu ihren Abendgesellschaften, warfen ihnen verwunderte Blicke zu, diesen zwei jungen Damen, die aussahen, als sei der Teufel hinter ihnen her. Edith und Amanda zwangen sich zu einem normalen Gehtempo, als sie bemerkten, dass sie Aufsehen erregten, auch wenn sie abwechselnd immer noch alle paar Meter über die Schulter blickten.

Nichts. Nur eine normale Straße in einer ganz normalen Sommernacht, mit ganz gewöhnlichen Menschen. Amanda wollte mit Edith sprechen, den Schrecken in Worte fassen, aber sie fand keine Beschreibung dafür. Fast schien es ihr, als könne sie sich schon gar nicht mehr genau erinnern, was sie eigentlich gesehen hatte, oder zumindest nicht gut genug, um es erklären zu können. Nur der kleine, eisige Ball tief unten an ihrem Rückgrat blieb.

Auf halbem Weg zur Oxford Street hörten sie endlich das willkommene Klappern von Pferdehufen hinter sich. Ein Hansom, und es war leer. Der Fahrer warf ihnen verwunderte Blicke zu, als frage er sich, was sie hier trieben und warum sie so abgehetzt waren, aber er nahm sie ohne Kommentar mit, ließ sich von Amanda die Adresse geben und schnalzte mit den Zügeln, um sein Pferd anzutreiben.

Edith sank in den Sitz zurück und ließ endlich Amandas Hand los. Sie schnitt eine Grimasse, massierte ihre steifen, blutleeren Finger und sah Amanda beinahe hilflos an, als wolle sie ihr eine Frage stellen, die sie nicht artikulieren konnte.

Amanda konnte ihr da nicht weiterhelfen. Sie lehnte sich ebenfalls zurück und die Fahrt verging in Schweigen, durch die stillen, luxuriösen Straßen um den Grosvenor Square, vorbei am Hyde Park, bis die vertrauten weißen Häuserreihen von Belgravia links und rechts im Laternenschein schimmerten. Sie dachte flüchtig, dass sie sich eine Erklärung für Tante Maud zurechtlegen sollten und dass sie vielleicht auf die Uhr sehen sollte, um herauszufinden, um wie viel sie zu spät kamen, aber sie konnte sich weder zum einen noch zum anderen aufraffen.

Die Kutsche hielt vor der Tür von Nummer 67 und Amanda bezahlte den Fahrer, während Edith die Tür aufschloss. Drinnen fanden sie keineswegs das Haus in Aufruhr vor, wie Amanda fast befürchtet hatte. Mr Cowden kam aus der Tür zum rückwärtigen Anbau und sagte nur: »Ah, Miss Hall, Miss Amanda. Sie kommen spät, Mrs Ashley fing schon an, sich Sorgen zu machen. Sie ist oben. Möchten Sie noch etwas zu Abend essen?«

»Eine Kleinigkeit wäre nett«, sagte Edith mit völlig normaler Stimme. Amanda wusste selbst schon gar nicht mehr, warum sie sich eigentlich Gedanken gemacht hatte, wie sie empfangen würden. Warum war sie so unruhig?

Doch je weiter sie die Treppe hinaufstiegen, umso gelassener wurde sie. Im Salon legte Tante Maud ihr Buch zur Seite, so wie sie es auch an jenem ersten Abend getan hatte, blieb aber sitzen. »Da seid ihr ja, Mädchen«, sagte sie untypisch milde. »Was hat euch denn so lange aufgehalten?«

Amanda war sich schon gar nicht mehr sicher, was eigentlich zu dieser Verzögerung geführt hatte. »Wir haben sehr lange gebraucht, bis wir am Lokal angekommen sind«, begann sie zögerlich, aber als sie es aussprach, schien es die richtige Erklärung zu sein.

»Der Londoner Verkehr ist wirklich fürchterlich«, bestätigte Edith. »Und auf dem Rückweg war er kaum besser. Es tut uns leid, Tante Maud, dass wir so spät kommen.«

»Schon gut«, winkte Maud ab. »Hat sich der ganze Aufwand wenigstens gelohnt?«

»Ja, ich habe die Handschuhe zurückbekommen«, sagte Edith. »Wenn du mich kurz entschuldigst, bringe ich sie oben in Sicherheit und mache mich vor dem Essen ein wenig frisch. Kommst du mit, Amanda?«

Sie wuschen sich Gesicht und Hände. Sie aßen und schliefen. Und am Morgen konnte sich Amanda nur noch daran erinnern, dass sie gestern etwas später heimgekommen waren als geplant.

 
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